2024-08-29_RP_Eine Stadt ohne Barrieren
Worauf legen Stadtbürger wert? Was ist ihnen wichtig? Künstlerinnen haben sich in Wiesdorf umgehört und dabei auch viel Persönliches erfahren.
LEVERKUSEN | „Wenn Du nachts die Augen schließt, liebes Leverkusen, worin bestehen dann deine Träume, Wünsche und Ängste?“ Künstlerin und Kunstpädagogin Theresa Herzog sowie Kulturpädagogin Sonja Tucinskij versuchten dieser durchaus kniffligen und vielschichtigen Frage in den vergangenen vier Monaten auf den Grund zu gehen. Dafür befragten die beiden Projektleiterinnen der Montag-Stiftung für Kunst und Gesellschaft zahlreiche Menschen in Wiesdorf. Die Ergebnisse wurden der Stadtspitze und dem Fachbereich Stadtentwicklung jetzt in Form einer Zeitung übergeben.
Dabei ist die Frage nach den Wünschen der Bevölkerung keinesfalls einfach zusammenzufassen. Schließlich ist sie vielgesichtig und heterogen. „Es ist wahnsinnig vielschichtig“, berichtete Herzog in der Projektzentrale in der Innenstadt, „aber wir haben einige Dinge, die stadtpolitisch interessant sein könnten.“ So kam etwa besonders oft die fehlende Barrierefreiheit in Leverkusen von Alt und Jung zur Sprache. Das mühsame Vorankommen betrifft demnach nicht nur Rollstuhlfahrer. Auch Gehbehinderte und Senioren sowie Mütter oder Väter mit Kinderwagen sind betroffen. Sie wollen gehört werden. Auch dieser Wunsch eint die Leute.
Michael ist seit zweieinhalb Monaten an einen motorisierten Rollstuhl angewiesen. Er hatte sein Leben lang stets gearbeitet, war in der Pflege und im Rettungsdienst aktiv. Ein Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule, der den Spinalkanal verletzte und das Nervenwasser verwirbelte, veränderte dann jedoch alles. „Das hat meine Nervenbahnen dauerhaft geschädigt“, erzählte er. Die Folge: spastische Tetraparese. Die fehlende Barrierefreiheit ist für ihn ein tägliches Ärgernis. Er betonte: „Wovon ich träume ist, dass die Menschheit wieder ein bisschen offener durch die Gegend läuft, mehr Akzeptanz und Toleranz zeigt.“
Ein gesellschaftlicher Wandel und die Sehnsucht nach einer anderen Welt mit Augenmerk aufs Klima finden sich in den Nennungen weit oben. Der Leverkusener ist insgesamt aber bescheiden: Liebe, Natur und Gemeinschaft braucht er am allermeisten. Doch wie soll man sich zueinander finden, wenn viele Einwohner die Stadtteile laut Herzog doch als zu separiert wahrnehmen.
Insgesamt bekundeten die beiden Projektleiterinnen eine bemerkenswerte Offenheit der Leute aus der Farbenstadt. Denn die Frage nach Wünschen oder Träumen hätte auch oberflächlich beantwortet werden können. „Dabei ist es zwar mal geblieben“, sagte Tucinskij, „aber es wurde oft sehr persönlich, und wir haben sehr viele persönliche Geschichten erfahren.“ Dabei ging es oft vom Großen ins Kleine und vom Kleinen ins Große. „Einige beschweren sich dann natürlich erstmal, aber wir versuchen dann, mit ihnen weiterzudenken und produktiv zu werden“, erläuterte Herzog.
Leverkusen ist erst die zweite Stadt, in der die Stiftung den Versuch durchführt. Sie folgt Pirmasens. Beide Kommunen eint, dass sie stark von einem Industriezweig geprägt wurden und es weiterhin sind. Im Fall der Gemeinde in Rheinland-Pfalz ist es die Schuhherstellung. Obwohl die beiden federführenden Frauen die hiesige Chemiestadt zumindest ein wenig kennen, haben sie sie erst jetzt einen echten Eindruck erhalten. Für Tucinskij war Leverkusen nur eine Durchfahrtsstadt. Dabei besitze sie durch ihre Geschichte eine sehr vielschichtige und engagierte Gesellschaft mit lauter Ideen, stellte die 31-Jährige fest. „Das ist von außen natürlich nicht sichtbar“, sagte sie. Und Herzog bescheinigte den Menschen ein „wahnsinniges Potenzial“. Sie bekräftigte: „Ich sehe die Möglichkeit, dass die Stadt aus dem Schatten der Autobahn und Rheinmetropolen herauswachsen kann.“